Ich war mal wieder eine Stunde auf meinem neuen Sitzplatz im Wald. Es war schon spät, zur Zeit des Sonnenuntergangs, nur die Baumwipfel waren noch beschienen. Ziemlich kalt. Keine Mücken diesmal. Einige Vögel waren zu hören, aber keiner hat sich mir gezeigt.
Als ich mich setzte, war da zunächst Traurigkeit. Ich konzentrierte mich auf meine Gefühle und versuchte, tiefer zu schauen. Welches Gefühl ist da, und welches Gefühl liegt noch tiefer? Die Kette bei mir war heute: Traurigkeit, Nicht-Wahrgenommen-Werden, Selbstverachtung, Scham, Schuld. Weiter gelang ich nicht. Es lösten sich viele Tränen.
Mir wurde klar, daß ich mich selbst steif und hart gemacht habe, um nicht spüren zu müssen, was anscheinend mal unerträglich war. Und diesen Panzer trage ich noch heute. Er verursacht Schuld mir selbst gegenüber. Ich habe mich damit eingesperrt.
Ich blickte auf und sah eine junge Traubenkirsche vor mir, die sich gerade sanft im Wind verneigte. Das rührte mich. Darum gehts bei mir. Wenn der Wind weht, kann ich mich einfach sanft oder auch mal unsanft vom Wind bewegen lassen. Es gibt keine Notwendigkeit, Widerstand zu leisten.
Ich sprach dann noch ein stilles Gebet, erst ein Bittgebet, anschließend ein Dank.
Danach war ich wieder einigermaßen im Frieden und konnte mich auf die Natur um mich herum einlassen.
Mir fiel auf, daß die Kiefern nicht mehr knistern. Wochenlang haben sie immer geknistert, ich bin nicht dahintergekommen, woran es liegt. Ob es was mit dem Frühlingserwachen zu tun hat, vielleicht Zapfen, die sich öffnen? Heute waren sie still. Kein Knistern mehr.
In nicht allzu großer Ferne ab und zu Kinderlachen, ein Pferd, das geritten wird, ein anderes auf der Wiese hinter dem Bach, das wieherte. Auch mal Hundebellen in der Ferne. Ich sitze nicht weit ab von einigen Wanderwegen und einer Straße, aber weit genug ab, um nicht gesehen zu werden, solange nicht andere Menschen so wie ich durch den Wald schleichen.
Wilde Tiere wollten sich mir heute nicht zeigen. So lauschte ich nur still und versuchte, die Gedanken zu lassen. Wenn die Gedanken mal für ein paar Augenblicke schweigen, ist sofort mehr Wahrnehmung da.
Als eine Stunde vorbei war und die Kälte doch etwas unter meine Kleidung gekrochen war, stand ich vorsichtig auf und folgte dem Gesang eines Vogels, den ich schon eine Weile gehört hatte. Endlich eine Gelegenheit, mal den Fuchsgang zu üben. Leise Schleichen war mir bei den vielen trockenen Ästen und Laub auf dem Waldboden leider kaum möglich. Trotzdem ließ mich der Vogel immer näher kommen.
Endlich klang der Gesang so laut, als sei der Vogel direkt vor mir. Ich konnte ihn nicht finden, nichts zu sehen in der Dämmerung. Eine ganze Weile suchten meine Augen vorsichtig die Bäume vor mir ab. Endlich sah ich ihn. Er saß auf einem Ast einer Kiefer ganz knapp vor und nur wenige Meter über mir, getarnt gegen den Stamm, was ich nicht erwartet hatte. Ein Rotkehlchen! Wunderschön sang es.
Es flog auf und landete direkt über mir. Ergriffen blieb ich stehen und lauschte noch eine ganze Weile. Dann schlich ich vorsichtig davon, um das Rotkehlchen nicht weiter zu stören. Schönes Erlebnis. Wenn dort sein Revier ist, kann ich es vielleicht noch öfter beobachten.
Auf dem Rückweg zum Auto, unterdessen war es schon recht dunkel, folgte ich mit schnellen Schritten einem Weg, als mir plötzlich auf dem Weg ein Tier entgegenlief. „Ein Wolf!“, fuhr mir in der ersten Schrecksekunde durch den Kopf. ANGST! „Nein, ein Hund, ein großer Hund“, war der zweite Gedanke, was meine Angst nur unwesentlich verringerte. „Ok, ich gehe weiter und lasse mir meine Angst nicht anmerken“. In dem Moment sprang das Tier zur Seite ins Gebüsch und verschwand. Von der Seite sah es aus wie ein Reh. Es muß dann aber wohl ein junges Reh gewesen sein, denn es schien mir kleiner als hüfthoch zu sein.
Schade, daß ich mir durch meine Angst eine mögliche Begegnung verunmöglicht habe. Beim nächsten Mal könnte ich ja mehr am Wegrand gehen, vorsichtig, und bei Beobachtungen sofort stehenbleiben. Dazu war heute meine Angst zu groß.