Mittwoch, 18. Mai 2011

Sinne schärfen

Gestern hatte ich die Gelegenheit, schon nachmittags in den Wald zu gehen. Ich fand meinen jüngsten Sitzplatz nicht wieder. Nach dem zweiten vergeblichen Versuch, entschied ich mich, einfach erneut einen neuen Platz zu suchen. Es spricht für mangelnde Aufmerksamkeit, wenn ich so die Orientierung verliere. Auch für Unstetigkeit, wenn ich ständig neue Plätze aufsuche für meine Sitzplatzübung. Aber vielleicht muß es derzeit so sein, bis ich den „richtigen“ Platz gefunden habe?

Es geht bei mir bisher auch weniger darum, viele Tierbeobachtungen zu machen (meistens sehe ich keine), sondern eher darum, meinen Geist zu beruhigen. Gestern verlor ich mich beim Sitzen im Ausdenken von naturnahen Übungen. Eine davon probierte ich gleich im Anschluß aus. Ich habe das früher schon gerne gespielt.

Man suche sich eine halbwegs offene Fläche möglichst ohne dorniges Gestrüpp mit je einem Baum als Start- und Zielpunkt, mindestens 10m auseinander. Man präge sich die umgebende Natur etwas ein. Dann gilt es, mit geschlossenen oder verbundenen Augen von einem Baum zum anderen zu gelangen, was gar nicht so leicht ist.

Mir macht das Spaß. Es schult die Sinne, die sonst weniger Beachtung bekommen – Gehör, Geruch, Tastsinn - und das Gleichgewichtsgefühl, es führt zuweilen an die Grenzen von Angst oder Verwirrung. Wenn ich unerwartet in einem Gestrüpp lande, weil ich vom Weg abgekommen bin – suche ich dann weiter oder gebe ich gleich auf? Wie reagiere ich bei einem unerwarteten Geräusch? Hat der Vogel dort hinten noch den gleichen Platz, so daß mir sein Gesang eine Orientierung geben kann?

Ich war gestern weitgehend angstfrei, und da sehe ich schon den Erfolg der letzten Monate. Denn vor einigen Monaten fühlte ich mich noch „komisch“, wenn mich jemand am Wegrand sitzen sah, und ich zuckte bei jedem Knistern zusammen. Unterdessen bin ich unerschrockener. Gestern fühlte ich mich sicher, mitten im Gehölz ist mir bisher aber auch kein Mensch begegnet.

Ich hatte während dieses Spiels einige sehr dichte Erfahrungsmomente, als meine Aufmerksamkeit sehr nah im Hier und Jetzt und bei den Sinneseindrücken verweilte – bevor mich wieder irgendein Gedanke aus der meditativen Stille riß.

Interessant war, daß ich zweimal mein Ziel verfehlte, wobei ich einmal nur knapp daneben aufgab, das andere Mal völlig vom Weg abgekommen war. Danach probierte ich es barfuß. Und plötzlich hatte ich Erfolg. Meine Füße folgten problemlos dem schmalen leicht gewundenen Trampelpfad, der zwischen den Grasbüscheln grasfrei und überwiegend nur mit Fichtennadeln und Zapfen bedeckt war und etwa in die richtige Richtung führte. Einige kreuz und quer liegende größere Äste gaben zusätzlich Orientierung.

„Schuhe sind wie Augenbinden für die Füße“ – diese Aussage einer südamerikanischen weisen Frau fand ich so bestätigt. Wenn schon die Augen mal nichts sehen, ist es umso wichtiger, daß andere Sinne offen und empfänglich sind.

Es schafft eine tiefere Verbindung zu mir selbst und zur Natur. Denn wer kann schon richtig sehen? Unser Sehsinn ist korrumpiert durch massive Reizüberflutung und zudem durch die Neigung, alles was wir sehen, nur durch Denkschablonen wahrzunehmen: „das ist ein Baum“ – und schon haben wir vor dem geistigen Auge eine Schablone von einem Stamm, Ästen und vielleicht viel flächiges Grün, so wie ein Kind einen Baum malen würde, mehr ein Piktogramm als ein lebendiges individuelles Wesen. Die Schablone verhindert, daß wir den Baum sehen, wie er wirklich ist. Bei den normalerweise im Alltag weniger stark genutzten Sinnen ist das Risiko der schablonenhaften Wahrnehmung deutlich geringer.

Nach der Übung fühlte ich mich sehr weich. Da ich eh schon barfuß war, watete ich zum ersten Mal durch den kleinen Bach in der Nähe, der nach dem vielen Regen nun deutlich mehr Wasser führte. Kalt war es. Erfrischt kehrte ich zu meinem Auto zurück.

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