Dienstag, 19. Juli 2011

Rehe

Das war ein spannender Weg heute. Ich ging eine neue Strecke, weitgehend parallel zu offenen Feldern mit hohem, noch ungemähten Gras. Am Wegrand war Totholz zu einer hohen Hecke aufgeschichtet. Dort lebten viele Vögel. Ich kam nicht nah genug, um sie zu identifizieren. Einige kannte ich vielleicht noch nicht einmal.

Ich ging auf dem geraden Wegstück längere Abschnitte mit geschlossenen Augen – immer wieder eine spannende Übung. Der leichte Schotter des Pfads markiert gut den Weg, da kann man eigentlich nicht abkommen. Als ich die Augen öffnete, sah ich im Feld vor mir, ca. 100m entfernt, einen dicken Stock mit einer Astgabel aufragen. „Merkwürdig“, dachte ich, „hat da jemand den Stock zur Markierung in die Erde gespießt?“

Ich blieb still stehen und schaute genau hin. Da, die Astgabel bewegte sich leicht. Oder doch nicht? Starre dort, und Starre bei mir. „Aah, es könnte der Kopf eines Rehs sein.“ Nun blieb ich erst recht regungslos stehen. Es dauerte einige Minuten, bis es eine neue Bewegung gab. Nun sah ich den Kopf von der Seite – eindeutig ein Reh (oder reh-artig, ich kenne die verschiedenen Wildarten nicht so genau).

Dann hatte das Tier sich davon überzeugt, daß von mir keine Gefahr ausging, bückte den Kopf und graste weiter. In kurzen Abständen hob es jeweils den Kopf, drehte die Ohren in alle Richtungen und horchte und schaute nach Gefahr. Ich blieb noch lange stehen, beobachtete, wie das Reh langsam durch das Feld ging, äste und immer wieder den Kopf hob. Ein Glücksgefühl hatte ich da, denn bisher waren alle Rehe vor mir geflohen, bevor ich sie überhaupt bemerkt hatte. Anscheinend hatte ich heute endlich mehr innere und äußere Stille, so daß ich nach einiger Zeit akzeptiert wurde.

Als ich noch so still dastand, bemerkte ich eine leichte Bewegung im Gras dichter vor mir. Ganz vorsichtig drehte ich den Kopf mehr in diese Richtung. Erneut bewegte sich ein Grashalm. Dann plötzlich hüpfe ein Hase durch das Gras - und direkt auf mich zu! Unfaßbar. Weniger als 10m vor mir kam er aus dem Feld, durch den kleinen Graben und auf den Weg, auf dem ich stand. Er blieb einige Mal kurz stehen, nippelte an einem Grashalm, hüpfte aber schnell weiter. Das Tier hatte ein recht dunkles Fell, sehr große Ohren und erschien mir auch recht groß. Eher ein Feldhase als ein Kaninchen, aber ganz sicher bin ich nicht.

Offensichtlich bemerkte er mich nicht, obwohl ich so dicht dran war! Ging denn kein Geruch von mir aus, oder riechen Hasen nicht gut? Ich blieb in Ehrfurcht erstarrt. Als er nach rechts abdrehte und ich vorsichtig mit dem Kopf folgte, hüpfte er schneller – vielleicht doch etwas bemerkt? Er verschwand dann im Feld auf der anderen Seite und legte schnell einige Meter zurück, versank so im tiefen Gras. Tolle Begegnung!

Das Reh auf der anderen Seite war immer noch da, aber viel weiter entfernt. Ich setzte meinen Spaziergang dann fort, folgte einem Weg durch ein Waldstück, bis ich seitlich eine Lichtung aufblitzen sah. Ich ging darauf zu, bemerkte einen alten Strohballen – vielleicht vom Förster für eine Winterfütterung des Wilds zurückgelassen? - und trat geräuschvoll an den Rand der Lichtung: ein Fehler, natürlich! Ein Kaninchen hatte schon weit entfernt Lunte gerochen, hoppelte schnell in den Wald zurück und machte so auch die beiden Rehe in der Ferne auf mich aufmerksam. Das nächste Mal schleiche ich mich vorsichtig an, wenn ich mich einer Lichtung nähere! In der Ferne konnte ich ein Reh mit seinem Kitz sehen. Es nutzte nichts, daß ich nun still stehenblieb, sie hatten mich schon bemerkt und waren vorsichtig. Langsam näherten sie sich dem Waldrand gegenüber und verschwanden im Gebüsch.

Trotzdem eine schöne Beobachtung. Lange Zeit habe ich Sitzplatzübungen und Wege durch den Wald gemacht, ohne viele Tiere zu sehen. In letzter Zeit wird es mehr. Anscheinend lohnt es, in der Abenddämmerung unterwegs zu sein.

Auf dem Rückweg kam ich nochmal an dem ersten Feld vorbei. Erneut entdeckte ich dort das Reh, das sich kaum vom Fleck bewegt hatte. Ich wollte mir nicht mehr die Zeit für ruhige Beobachtung nehmen, sondern ging langsam weiter. Prompt zog sich das Tier von mir zurück und suchte Schutz in etwas höherer Vegetation in der Mitte des Feldes. Immer wieder konnte ich die astgabel-ähnlichen Ohren in Lauschposition sehen. Nun konnte ich diese charakteristische Form auch aus großer Entfernung noch erkennen.

Es ist schön, ein wenig tiefer in die Rhythmen der Natur einzudringen. Die funktionieren wie eh und je – abgesehen von der immer weiteren Einengung und Störung durch die menschliche Zivilisation. Aber immer noch schenken sie uns Zeichen dessen, wie auch wir wieder mehr im Einklang mit allem, was ist, leben könnten.

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