Mittwoch, 6. Oktober 2010

Berufung?

Heute morgen wachte ich mit einer sehr depressiven Stimmung auf. Wieder ins Büro zu müssen nach einem Wochenende in freier Natur mit einem starken Gefühl der Sinnhaftigkeit und Freiheit – die Hölle!

Wir wurden am Ende des Survival-Kurses davor gewarnt, daß es „normal“ sei, nach einer solchen Erfahrung in eine Depression zu fallen. Begründung: der Aufenthalt in frischer Luft unter freiem Himmel löst Glückshormone aus, die im normalen Zivilisationsalltag nicht anhalten können. Wir wurden aufgefordert, möglichst viel weiterhin draußen zu sein, uns etwas Gutes zu tun, um gegenzusteuern.

Ich glaube, das geht noch viel tiefer. Das Leben in und mit der Natur ist auch unsere menschliche Natur, das brauchen wir so dringend wie Essen und Trinken. Ein Leben inmitten von Beton- und Asphaltwüsten amputiert einen wesentlichen Teil unseres Menschseins, macht uns zu Zivilisationskrüppeln.

Dazu kommt die Diskrepanz zwischen dem Freiheitsgefühl des recht selbstbestimmten Lebens im Rahmen eines Outdoor-Camps und der Sklaverei des fremdbestimmten Angestelltendaseins.

Ich war mit mindestens einem Bein außerhalb der Matrix. Den Abstand zum normalen Alltag habe ich unglaublich intensiv wahrgenommen, das fing mit der Rückfahrt vom Camp schon an. Ich war so voll von Eindrücken von den Menschen, die ich dort kennengelernt habe, von einigen neuerlernten Techniken, die wirklich sinnbehaftet sind, weil sie dem menschlichen Leben an dessen Basis dienen, von der Ungezwungenheit und Freiheit von Zivilisationsballast. Ich spürte einen riesengroßen Abstand, wie eine unsichtbare Wand zwischen mir und der normalen Welt.

Der Anpassungsdruck ist aber riesengroß. Letztes Jahr nach meiner Schwedenreise hat es mich fast zerrissen, diese Diskrepanz zu spüren. Ich konnte damit nicht umgehen, fand keinen einfachen Ausweg aus der zivilisatorischen Falle, in die ich wieder gehen mußte, mir fielen nur Brachiallösungen ein (Job kündigen ohne Zukunftsperspektive, dauerkrank werden o.ä.), zu denen mir dann doch der Mut fehlte.

Zuletzt ging es mir ja wieder recht gut, vermeintlich. Ich hatte mich offenbar einlullen lassen, mich wieder gut eingerichtet im Gefängnis. Diese Gefahr ist auch jetzt gegeben. Ich merke, wie die anderen Sklaven an mir zerren, um mich zurückzuziehen. Sklaven fühlen sich von freien Menschen bedroht. Und solange ich selber nicht wirklich frei bin, kann ich die innere Zerrissenheit nicht ertragen. Also lasse ich mich zurückziehen, also passe ich mich wieder an und ein, lasse mich verbiegen und verbiege mich selber, um wieder systemkonform zu sein.

Als ich mich zu diesem Kursus anmeldete, hatte ich nur das vage Gefühl, daß dies eine gute Krisenvorsorge sein könnte – und ich sehnte mich nach wenigstens zwei Nächten im Zelt, das hatte mir in diesem Sommer sehr gefehlt. Die Erfahrung ging aber tiefer. Sie hat mich daran erinnert, daß ich in der falschen Rolle feststecke. Ich bin keine Programmiererin, das ist nur ein Job, um Geld zu verdienen. Es entspricht mir nicht (mehr). Nur die ersten Jahre meines Berufslebens war ich damit glücklich. Schon mit Ende 20 kam die erste große Krise. Seitdem immer wieder, im Abstand von wenigen Jahren.

Mein Problem in diesen Krisen war immer: ich fand einfach kein Berufsbild, das mir besser entspricht. Ich müßte einen neuen Beruf für mich erfinden. Und an dieser Hürde bin ich bisher stets gescheitert. Das Berufsbild HEXE, das mir vielleicht noch am nächsten kommen würde, gibt es in der heutigen Gesellschaft nicht.

Mit Brachiallösungen komme ich hier nicht heraus. Die inneren und äußeren Widerstände sind zu groß, sie würden mich überfordern. Es kommt keine Zauberfee, die den Stab schwingt und mich in ein neues Leben versetzt. Mit dem Kopf gegen die Zellentür anzurennen, bewirkt auch nichts außer blutigen Beulen.

Nein, ich muß kleine Schritte gehen, auch wenn die Ungeduld mich schneller vorwärtsdrängen möchte. Ich muß das tun, was mir jeweils möglich ist, wohl mit Herausforderung, aber ohne Überforderung.

Vor einigen Monaten überlegte ich, mich auf eine höhere Position beim gleichen Arbeitgeber zu bewerben. Ich verwarf es schließlich, denn es war nicht das, was ich wirklich wollte. Vorletzte Woche war ich so stinkig über die Entwicklung an meinem Arbeitsplatz, daß ich ein Bewerbungsschreiben für eine ausgeschriebene Stelle eines anderen Arbeitgebers verfaßte.

Bevor ich das abschicke, müßte ich aber erst meine Bewerbungsunterlagen auf einen aktuellen Stand bringen, das verschob ich auf die Zeit nach dem Survival-Camp. Und nun merke ich: nein, ich will mich auch nicht bei einem anderen Sklavenhalter bewerben, denn das würde gar nichts ändern. Ich wäre in der Anfangszeit wieder stark eingespannt, mich auf neue fachliche Inhalte und neue Menschen einzustellen, das würde meine freie Energie völlig absorbieren und auf längere Sicht doch nichts an meiner Situation ändern. Die Gefängnismauern wären anders angestrichen, das wäre die einzige Änderung.

Ich habe keinerlei Erfahrungen, wie ich mein Geld anders verdienen könnte als mit Angestelltentätigkeit. In der Verwandtschaft habe ich auch keine anderen Vorbilder. Als Schülerin habe ich mal recht erfolgreich Nachhilfe gegeben, das ist die einzig abweichende Erfahrung, die liegt aber sehr lange zurück. Mein frühester Berufswunsch war Lehrerin.

Voriges Jahr hatte ich die Vision, daß ich gerne anderen Menschen das vermitteln würde, was mir wichtig ist. Das Leben in und mit der Natur. Ich könnte Seminare geben, oder etwas in der Art. Eine komplette berufliche Umorientierung, ein kompletter Neuanfang. Doch bald erschreckte ich vor dem hohen Ziel. Wer ein loderndes Feuer als Ziel vor Augen hat, schafft es nicht, mit Bedacht die noch sehr schwache zarte Glut anzupusten. Ich will es diesmal anders machen. Mich darauf konzentrieren, die glimmende Glut zu nähren, damit sie nicht wieder erlischt. Ob daraus in der Zukunft mal ein Feuer wird, wird sich dann erweisen.

Vielleicht entscheide ich mich für eine Weiterbildung im Bereich Wildnispädagogik, das spricht mich an. Ich muß ja nicht vorab schon wissen, wo mich das hinführt, wichtig ist der Weg in die richtige Richtung. Und dann einfach anfangen!

3 Kommentare:

  1. Ohja ich fühle mit Dir, kenn das selber zu gut...
    Dir ist es immerhin schon bewußt und Du überlegst aktiv, das is mehr als ich bei so manch anderem entdecken kann, die sind schon so abgetrennt von ihren Gefühlen und Mensch-sein, dass sie gar nicht mehr merken, wie roboterhaft sie leben....

    Ich wünsche Dir Mut, Deinen Weg zu gehn :-)

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  2. liebe louise,
    du sprichst mir aus der tiefsten seele. immer wieder habe ich auch solche gedanken und immer wieder traut man seiner eigenen kraft nicht.

    wildnispädagogik hört sich ganz toll für dich an!! und wer weiß wozu es gut ist!!!

    LG Sania

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  3. Ihr Lieben,

    bei diesem Thema kann ich es gut gebrauchen, daß mir jemand Mut macht. Danke! :-)

    Ich freue mich immer über Kommentare, bin nur etwas knapp mit meiner Zeit, immer darauf einzugehen, oder auch mal in Eure Blogs zu kommen.

    Wenn ich (spät-) abends nach Hause komme, beginnt von meinem Gefühl erst mein eigentlicher Tag, der Tag für mich, mit richtiger und sinnvoller Arbeit. Kein Wunder, daß ich immer total k.o. bin und keine Zeit zum Schlafen finde.

    Heute habe ich im Halbdunkeln Eicheln gesucht - und quasi keine gefunden, scheint ein schlechtes Eicheljahr zu sein, in den Bäumen war nichts zu sehen und am Boden auch nicht. Aus den paar wenigen, die ich mitnehmen konnte, koche ich gerade Eichelmus, soll ja früher ein wichtiges Grundnahrungsmittel gewesen sein, das wollte ich unbedingt mal ausprobieren.

    Und da mein alter Pflaumenbaum schon seit Jahren kaum noch Ertrag hat, verarbeite ich heute auch noch 2 kg gekaufte Zwetschgen (wahrscheinlich werde ich sie auf die Schnelle nur einfrieren).

    Und danach wollen die Brennesselsamen, die ich vor Tagen geholt habe, noch abgenippelt werden. Es riecht etwas extrem, ich überlege noch, ob ich die im Ofen antrocknen sollte, bevor sie womöglich anfangen zu schimmeln.

    Es wäre wunderbar, wenn ich das, was ich wirklich mit Leidenschaft tue, irgendwie beruflich verwerten könnte. Noch nie habe ich freiwillig in meiner Freizeit eine Programmiersprache gelernt - das sagt doch schon alles...

    Zur Zeit passiert sehr viel bei mir, bin gespannt, wie es weitergeht.

    Liebe Grüße,
    Louise

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