Freitag, 19. November 2010

Alltag im System

Gestern abend hatte ich diese lichten Momente, in denen das Leben ganz klar und einfach erschien. Ging leider schnell wieder vorbei.

Die Situation am Arbeitsplatz produziert immer wieder neue Aufregungen. Jetzt sollen uns sämtliche privat beschafften elektrischen Geräte wie Wasserkocher, Ventilatoren, individuelle Beleuchtung etc. verboten werden, ebenso jede individuelle Veränderung der Möblierung (die völlig am Bedarf vorbei geplant ist). Auch das Aufstellen privater Fotos etc. auf den Schreibtischen ist anscheinend unerwünscht.

Die Begründungen sind hanebüchen. Zum einen geht es um Energiesparen (ich bin ja auch für den Schutz der Umwelt und knapper Ressourcen, aber diese Energiesparhysterie mit Hilfe immer komplizierterer Technik ist menschenfeindlich ausgeartet), zum anderen um freie Schreibtischflächen zur leichteren Reinigung. Bloß daß diese Reinigung bisher von uns nicht festgestellt werden konnte, es staubt ein wie eh und je. Und dank der fehlenden Ablageflächen muß halt auch mal ein Blatt Papier auf dem Schreibtisch liegen – es sei denn, wir stellen die Arbeit einfach ein. Das geht natürlich auch, und die Firmenleitung ist auf dem besten Weg, das zu erreichen.

Es soll anscheinend eine klinisch reine Umgebung geschaffen werden, einige sprechen schon von Krankenhausatmosphäre. Ich finde Krankenhäuser eher heimeliger als meinen Arbeitsplatz mit den kahlen Wänden und durchgenormten funktionsfeindlichen Design-Teilen (z.B. Wasserhähne, die in alle Richtungen spritzen und tropfen – sehen aber „super“ aus).

Auch die zunehmenden bürokratischen Anordnungen werden immer grotesker. Dabei habe ich schonmal in einem gut verwalteten Großkonzern gearbeitet – so blödsinnige arbeitshemmende Vorgaben gab es nicht einmal dort. Allerdings ist das lange her, möglicherweise ist das System auch dort unterdessen völlig ausgeartet.

Ich verstehe das jetzt besser. Zum einen werden diese menschenfeindlichen Systeme von Menschen geschaffen, deren Zugang zu ihrem eigenen Selbst völlig blockiert scheint. Ich kann das unterdessen sehr gut wahrnehmen, wer gut bei sich ist und wer nicht. Und zum anderen zwingt die Logik unseres Wirtschaftssystems dazu, daß die arbeitenden Menschen immer weiter ausgepreßt werden, damit die Profite für die wenigen Nutznießer des Systems weiterfließen und damit das Schuldgeldsystem nicht zusammenbricht.

Ein Unternehmen, das menschenfreundlich mit seinen Mitarbeitern umgeht, hat heute nur noch schlechte Überlebenschancen im brutalen Konkurrenzkampf.

Wo gibt es da für mich als einzelnes Individuum eine Möglichkeit, etwas zu verändern? Ich tue ja schon viel für meine Selbsterkenntnis, um meine eigenen inneren Hindernisse aus dem Weg zu räumen, und ich äußere Kritik an den Zuständen, wo immer es mir möglich ist. Das nutzt aber wenig, an den Gesamtstrukturen kann ich nichts ändern. Und ertragen kann ich sie auch immer weniger.

Ich will raus aus dem System.

Ganz wird mir das nicht gelingen, solange das System selber nicht zusammengebrochen ist. Es ist quasi unmöglich, sich ganz herauszuziehen. Nicht mal als Obdachloser könnte man frei in Deutschland leben, selbst da ist man an Vorschriften gebunden und wird kaum noch irgendwo geduldet. Auch alle anderen Nischen, die ich mir so vorstellen kann, wirken nur beschränkt.

Am freiesten sind noch die, die richtig viel Geld haben. Die können sich ihre eigenen Gesetze schreiben und die dann auch noch brechen und jederzeit dahingehen, wo ihnen noch mehr Geld nachgeworfen wird. Ich glaube aber nicht, daß diese Menschen innerlich frei sind.

Wir sind alle Teil des Systems, mehr oder weniger, in verschiedenen Funktionen und an verschiedenen Standorten. Wenn jeder einzelne sich ändert, ändert sich wohl auch das System. Aber wie lange soll das noch dauern?

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