Freitag, 1. Januar 2010

Coming out

Es fühlt sich an wie ein "Coming out", und das ist es auch. Ich bin an einem Punkt, an dem ich sagen kann: "Hier stehe ich, ich kann nicht anders."

Heute abend [ich schrieb den Text am Silvesterabend, stelle ihn aber erst jetzt online] leide ich unter "Erkenntnis-Schmerz". Ich habe es in letzter Zeit oft erlebt, so auch heute. Plötzlich aus dem Nirgendwo ist eine Erkenntnis da. Ich weiß sofort, daß sie wahr ist. Ich sehe, was ich all die Jahre nicht gesehen habe. Es tut weh, es tut wahnsinnig weh. Und gleichzeitig bin ich so glücklich, daß ich dies nun endlich sehen kann. Es ist wie eine Scherbe, die in diesem zerbrochenen Gefäß, das ich bin, endlich wieder an ihren Platz gefunden hat.

Meine heutige Erkenntnis: ich weiß jetzt, warum ich nie Glück mit Männern hatte. In meinem ganzen Leben hatte ich noch nie eine echte sexuelle Erfahrung mit einem Mann. Der Grund ist ganz einfach: ich bin Männern auf einer inneren Ebene nie als Frau begegnet. Ich bin Männern immer als "Mann" begegnet. Ich habe mit Männern konkurriert, vor allem in intellektueller Hinsicht. Mich haben immer Männer mit Grips, mit einem hohen IQ, angesprochen. Damit habe ich konkurriert, das war mir wichtig.

Daß der Verstand völlig uninteressant ist, nur eine Hilfsinstanz, weiß ich ja erst seit kurzem.

Auf alle Männer, mit denen ich näher zu tun hatte, habe ich mein inneres Vater-Bild projiziert (das mit meinem Vater nur indirekt zu tun hat, auch hier wieder: keine Schuldzuweisungen an irgendwen, es handelt sich um eine schicksalhafte Verstrickung). Meine Kindheitserfahrung ist: als Mädchen wurde ich nicht angenommen. Ich durfte kein Mädchen sein, so habe ich eben alles darangesetzt, über eher maskuline Attribute Erfolg zu haben, ich habe hauptsächlich meine männlichen Anteile gestärkt und entwickelt. Nur über schulische und später berufliche Leistung konnte ich mich definieren und ein wenig Zuwendung erhalten. In dieser Rolle bin ich zeitlebens geblieben.

Bis jetzt. Mit der Ich-Illusion ist zeitverzögert auch die Leistungs-Illusion zusammengebrochen. Und zuvor habe ich über mehrere Wochen sämtliche mir zur Verfügung stehenden Rollenmuster durchgespielt (natürlich zunächst unbewußt, aber von mir schnell ins Bewußtsein geholt, mit dem Aufdecken meiner Spiele habe ich unterdessen viel Erfahrung), um einen Weg in die Phönix-Schule zu finden. Alles vergeblich, es war alles untauglich.

Die Muster taugen ja auch nichts zur Lebensbewältigung. Sie sind TOT! Sie dienen nur der Leidensverlängerung. Bei mir über 43 Jahre. Logisch, daß ich mit Männern auf einer kameradschaftlichen Ebene stets gut klargekommen bin. Aber sexuell war ich für Männer immer uninteressant, ich habe nie etwas anderes erlebt.

Und so entschied ich irgendwann (und das war zunächst eine reine Kopf-Entscheidung), daß ich es ja mal mit einer Frau probieren könnte. So gelangte ich in die Lesben-Welt und blieb da.

Ich bin wohl zu alt, um noch den biologischen Auftrag zu erfüllen, Kinder auf die Welt zu bringen. Das ist bitter, denn ich hätte gerne Kinder gehabt. Aber es war mir wohl nicht bestimmt, mein Weg war anders.

Ich glaube, ich bin bisexuell. Ich könnte mir vorstellen, daß das der natürliche Zustand jedes Menschen ist, aber da bin ich nicht sicher. Heterosexualität ist für die Fortpflanzung wichtig. Für die Lusterfahrung gibt es aber meines Erachtens keinen Grund, sich auf ein Geschlecht einzuschränken. Ich bin allerdings nicht sicher, was von der Lusterfahrung noch überbleiben würde, wenn das Ich tatsächlich ganz verschwinden würde. Möglicherweise würde sich Sexualität dann ganz auf die Fortpflanzungsfunktion reduzieren.

In diesem Jahr möchte ich meine Weiblichkeit neu entdecken, meinem Körper eine Chance zur Entfaltung geben. Allzu lange war er (oder besser sie, diese Frau hier) von einem falschen Rollenmuster eingeengt.

Heute abend sah ich mich in einem blitzartigen inneren Bild im Schnee (in dem Naturschutzgebiet, in dem ich letzte Nacht tatsächlich war). In meinem Bild lag ich dort auf den Knien zusammengekauert, nackt, ausgesetzt, allein. Und doch nicht allein. Nicht einsam. Denn es gibt eine Verbindung zum Ganzen, die ich spüre, auch wenn ich sie noch nicht "sehen" kann.



[Ich muß wahnsinnig sein, diesen Text hier öffentlich ins Internet zu stellen. Er entstand eindeutig ohne starke Verstandeskontrolle. Wenn es mir später allzu unheimlich wird, kann ich ihn ja wieder löschen. Genauso wie ich diesen gesamten Blog auch wieder löschen kann. Allerdings: was einmal ausgesprochen wurde, ist in der Welt, und kann letztlich nicht wieder zurückgenommen werden.]

1 Kommentar:

  1. Die Erklärung Deiner Homosexualität finde ich als "Hetero" sehr nachvollziehbar und kann mir vorstellen, daß gerade viele Frauen, ähnliche Erfahrungen gemacht haben.

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