Dienstag, 8. Dezember 2009

Ablenkung, Leere und Liebe

Anders als früher fahre ich unterdessen ganz gerne mit der S-Bahn. Ich komme dort Menschen körperlich viel näher als anderswo. Genau das war mir früher unangenehm. Jetzt nutze ich es, um in Gesichter zu sehen. Heute morgen hatte ich wieder dieses wunderbare Gefühl, das ich in den letzten Wochen schon einige Mal erleben durfte: Liebe. Liebe zu allen diesen Menschen, überhaupt zu allen Menschen.

Ich hatte heute auch zum wiederholten Mal das Bedürfnis, andere Menschen zu berühren, ihre Hände oder ihr Gesicht. "Das geht nicht", sagt das Gehirn, aber warum eigentlich nicht? Warum diese künstlichen Grenzen?

Ich kann jetzt nachvollziehen, daß alle Menschen den gleichen Urgrund haben. Die Verbindung zu anderen Menschen beruht darauf, daß ich mich in jedem anderen Menschen selbst wiederfinden kann. Auf einer tiefen Ebene sind wir alle gleich. Das macht mir jetzt keine Angst mehr. Meine Erfahrung muß sich allerdings noch vertiefen.

Mir ist heute auch bewußtgeworden, was am Arbeitsplatz unangenehmer ist als in der S-Bahn. Am Arbeitsplatz treffe ich auf mehr Masken, die Menschen spielen ihre Berufsrolle, die Gesichter sind (noch) verspannter als in der S-Bahn.

Vielleicht wehre ich mich unbewußt gegen diese Rolle, die ich dort auch spielen müßte, vielleicht ist das der Hintergrund meiner Arbeitsprobleme. Ich muß dort Dinge tun, die nichts mit mir zu tun haben, ich muß Gespräche führen, die nichts mit den Menschen zu tun haben, nahezu alles Handeln dort ist unauthentisch, nur der Rolle gemäß. Ich sehne mich nach tiefem Kontakt zu Menschen, der ist am Arbeitsplatz nicht möglich.

Ich bin in irgendeinem Zwischenstadium, scheint mir. Noch nicht ganz bei mir selbst, aber doch schon etwas aus der Ich-Rolle herausgefallen. Gestern abend fühlte ich mich einsam, deshalb machte ich wieder einen Spaziergang. Diesmal war es sehr dunkel, ich konnte den Weg kaum erkennen, nur erahnen. Danach fühlte ich mich deutlich besser, verbunden mit der Natur und mit mir selbst. Dann habe ich mich im Haushalt betätigt, ich war froh, daß ich die Energie dazu hatte. Das ist besser, als Löcher in die Luft zu starren, dachte ich mir. Ich wollte mit der Tätigkeit auch vermeiden, daß ich depressiv werde.

Spät erst kontrollierte ich mein Email-Postfach. Ich bin immer sehr enttäuscht, wenn ich wie gestern keine Post habe. Ich könnte mich ja auch über die für mich gewonnene Zeit ohne äußere Ablenkung freuen (denn andererseits sehne ich mich immer nach Zeit nur für mich), aber dann scheue ich doch die Konfrontation mit der Leere. Ich schrieb eine Email und schaltete dann den Rechner aus. In dem Moment, in dem ich eine Email lese oder schreibe, beziehe ich mich auf einen Menschen. Dabei weiche ich gleichzeitig mir selber aus.

Mir war gestern abend die ganze Zeit bewußt, daß ich derzeit einen Eiertanz um das schwarze Loch mache. Ich habe kapiert, daß ich mich mit mir selbst konfrontieren muß, mit der inneren Leere, um weiterzukommen. Ich will dies auch tun, ich habe gar nicht mehr so viel Angst davor. Aber dann scheue ich es doch. Um nicht ganz zu kneifen, legte ich spätabends noch eine CD mit einem Trance-Trommel-Rhythmus auf. Seit dem Sommer habe ich ab und an (autodidaktisch) versucht, eine Trance-Reise zu machen. Mein Gehirn produziert willig innere Bilder, aber wieviel davon ist künstlich erdacht und wieviel kommt aus einer tieferen wahren Schicht?

Gestern war ich in meinem inneren Bild nackt. Und blind. Mit verbundenen Augen. Ich vertraute mich einem Rentier an ("meinem" Rentier), das mich irgendwo herumflog. Es kam nichts neues heraus bei dieser kurzen Reise. Ich kann das Bild jetzt aber besser deuten. Mein ICH bestimmt nicht, wo es langgeht. Das Rentier bestimmt, das ist wohl ein Symbol für das Leben oder für das Selbst. Und ich sehe auch nicht, wo es langgeht, ich bin blind. Das deute ich zum einen als Zeichen für die Ungewißheit, das Unbekannte, und zum anderen als Zeichen dafür, daß ich die Augen noch nicht ganz geöffnet habe für die Wahrheit (dazu passen auch meine Spaziergänge im Dunkeln). Ich hatte im Sommer im wesentlichen das gleiche Bild, neu war jetzt, daß ich nackt war. Ganz einfach: den Schutzpanzer habe ich unterdessen abgelegt, vom Ego ist nicht mehr viel übriggeblieben.

Ich habe gestern auch wahrgenommen, daß ich den Trommel-Rhythmus auch nutzen kann, um ganz in der Wirklichkeit anzukommen, so daß die Gedankentätigkeit ganz aufhört. Ich kann die Trommeln zum Wachrufen nutzen. In dem Moment schaltete ich den CD-Spieler allerdings aus. Und dann las ich noch etwas vor dem Einschlafen, was mich natürlich wieder von mir selbst wegführte. Lesen = Verstandestätigkeit = Ablenkung von mir selbst.

Immerhin habe ich mich anscheinend genug mit mir selbst konfrontiert, um heute morgen diese wunderbaren Liebesgefühle zu haben. Ich habe viel Sehnsucht nach Kontakt zu anderen Menschen. Aber zunächst ist meine Aufgabe, so glaube ich, den Kontakt zu meinem eigenen Selbst herzustellen. Für Kontakte zu anderen habe ich später Zeit genug. Erstmal brauche ich den Kontakt zu mir selbst. Dieser Aufgabe will ich mich stellen. Ich will mich nicht unnötig ablenken. Ich will mich mit mir selbst konfrontieren. Heute morgen habe ich auch die dazu passenden Abschnitte am Ende von "Reines Sein" gelesen.

Ich frage mich, ob ich ganz bei mir selbst sein kann, ohne dabei die Empfindung zu haben, daß das Ich "stirbt". Und ich frage mich, ob es notwendig ist, eine Erfahrung zu machen, die auf körperlicher Ebene etwas verändert. Wenn diese tiefere "Erleuchtungserfahrung" akausal ist und in keiner Weise willentlich beeinflußt werden kann, dann konzentriere ich mich doch lieber auf das, was mir möglich ist.

Ich bin nackt, und ich bin blind, aber es gibt da ein Rentier mit einem wunderbar weichen und warmen Fell, dem kann ich mich anvertrauen, und das kann fliegen. Das ist ein Vorgeschmack der Freiheit.

Wir haben nicht die "Freiheit der Wahl", sondern die "Freiheit von der Wahl", das blieb gestern beim Lesen haften. Ist das wirklich tröstlich?

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